Dystopie oder realistische Antizipation? – Musik als Kartographie seelischer Räume

Dystopie oder realistische Antizipation? – Musik als Kartographie seelischer Räume

November 16, 2025

Auf den Spuren der Figuren Michel Houellebecqs bewege ich mich durch Klangräume, in denen Nähe und Entfremdung, Sinnsuche und Stillstand ineinanderfließen. Mich fasziniert die Genauigkeit, mit der Houellebecq seelische Landschaften kartiert – eine Welt, die zugleich vertraut und fremd wirkt.

Die Romane Michel Houellebecqs öffnen einen Blick auf eine Welt, in der moralische, soziale und existenzielle Fragen unauflöslich ineinander übergehen. Seine Figuren treiben durch urbane und innere Räume – resigniert, suchend, ohne Halt.

Meine Musik versteht sich als Resonanz auf diese Topographie der Leere: Sie sucht die Zonen zwischen Emotion und Distanz, zwischen Begehren, Hingeben und Aufgeben.
Wie bei Houellebecq und Huysmans geht es um das Nachspüren jener dekadenten Empfindsamkeit, in der sich das Schöne und das Verlorene berühren.

Dystopie oder realistische Antizipation? – Ein Spannungsfeld

Auf den Spuren der Figuren aus den Romanen von Michel Houellebecq

Die dystopischen Szenarien in den Romanen von Michel Houellebecq – insbesondere in Unterwerfung und Vernichtung – haben mich seit Langem fasziniert. Mit einer fast dokumentarischen Präzision beschreibt Houellebecq die Wege seiner Figuren durch Paris, ihre Bewegungen durch eine Welt, die gleichzeitig vertraut und entfremdet wirkt. Die topographische Genauigkeit – bis auf wenige Meter – verschmilzt mit einer seismographischen Erfassung seelischer Landschaften.

Diese Mehrschichtigkeit, in der soziale, moralische und existenzielle Fragen ineinanderfließen, ohne dass der Autor selbst ein moralisches Urteil fällt, ist für mich von besonderer Bedeutung. Houellebecq moralisiert nicht, und doch ist seine Literatur zutiefst moralisch – im Sinne einer radikalen Bestandsaufnahme unserer Zeit, ihrer Leere, ihrer Einsamkeit und ihrer rastlosen Suche nach Bedeutung. Seine Figuren sind oft verloren – nicht tragisch, sondern still resigniert, wie Partikel, die in einem zu großen, zu grellen System treiben.

Mich reizt der Gedanke, diesen existenziellen Schwebezustand musikalisch nachzuzeichnen – die Atmosphäre, den „Geruch“ der Orte, die Schwere und gleichzeitig die Leere, die Houellebecqs Paris durchzieht. Musik könnte in gewisser Weise das Unausgesprochene seiner Romane hörbar machen: jene Zonen zwischen Emotion und Entfremdung, zwischen Begehren, Hingeben und Aufgeben.

In einem verwandten Sinn empfinde ich, wie auch Huellebecqu in «Unterwerfung» eine Nähe zu den Romanen von Joris-Karl Huysmans – insbesondere zu deren feinsinniger Dekadenz und ihrem Rückzug ins Innere, in die Kunst, in die Stille. Die Musik Frankreichs, vor allem die des 20. Jahrhunderts und seiner zweiten Hälfte, ist für mich ein Resonanzraum dieser ästhetischen Empfindsamkeit – ein Ort, an dem sich die Spannungen zwischen Schönheit und Desillusionierung, zwischen Glaube und Zweifel, in Klang verwandeln lassen. Gerne arbeite ich deshalb in meinen Kompositionen inspiriert von Michel Huellebecqu. 

Interview: CRESCENDO trifft: Michael Pelzel

Michael Pelzel | Förderpreis Komposition / Composers Prize 2017